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Eines seiner unvergeßlichen Kompositionsseminare bei den Kölner Kursen für Neue Musik 1963 begann er – unscharf erinnert – so: „Lachenmann, nennen Sie irgendeine akustische Erfahrung, die Ihnen gerade in den Sinn kommt!“ Meine Antwort: „Hundegebell“. „OK, Marietan, und Sie?“ Antwort: „Schlag auf chinesisches Becken.“ Er: „Gut, jeder soll im Verlauf dieser Stunde eine Skala entwickeln, die diese beiden Klänge in einer Ebene verbindet.“ Ich weiß nicht mehr, ob wir alle seine Aufgabe „gelöst“ haben, jedenfalls war keine Skala wie die andere, und spätestens von da an hatte ich ihn, den freundlich-besessenen Schulmeister ins solcherweise von ihm geöffnete Herz geschlossen.
Ich kannte ihn seit 1957, wo er in Darmstadt unsereinen mit seinen oft umständlichen webernianischen Intervallbuchhaltungen zugleich nervte und beeindruckte. Damals erregten seine elektronische Musik „Scambi“, deren einzelnen Segmente für Tonbandschnippler sich beliebig kombinieren beziehungsweise montieren ließen, nicht weniger Irritation wie später sein „Répons“, beides mehr oder weniger handliche Baukasten-Modelle und Gesellschaftsspiele für eine imaginäre Gesellschaft aus lauter friedlich-verspielten Strukturalisten, die in einem anderen seiner Projekte in seriell beschallten Parkanlagen als heiter-neugierige Spaziergänger durch „freie“ Entscheidungen über die einzuschlagenden Wege zwischen den Lautsprechern immer wieder andere Verlaufszusammenhänge verursachten, wobei die musikalische Resultate immer geistvoll und lebendig waren. In „Votre Faust“ durfte das Publikum sogar „demokratisch“ über das Schicksal Faust’s und den Verlauf des musikalischen Geschehens abstimmen.
Kultur, bzw, die Musikszene als entspannt bevölkerte und zugleich anspruchsvolle, dabei ästhetisch radikal neu gepolte Spielwiese für eine friedlich-jugendliche
Menschheit, nicht zuletzt Reaktion auf die Nachwehen einer kaum überwundenen europaweiten Geisteslähmung und eines gespenstischen Krieges: das war und wußte sich
zweifellos als wirklichkeitsferne Utopie. Aber Pousseur hatte keine Angst, belächelt zu werden. Er ließ sich nicht beirren, auch nicht durch seine manchmal skeptisch
zuschauenden Freunde Stockhausen, Berio, Boulez, die mit ihrem viel roheren Zugriff ihm immer wieder in bißchen die Luft zum Atmen nahmen. Großartige Musik ist so entstanden:
„Mobile“ für zwei Klaviere, „trois visages de Liège“, „Rîmes“ , aus seiner Oper „Votre Faust“ jenes phantastische Klavierstück,, „Miroir de Votre Faust“ welches durch serielle
Transformationsprozesse das Hören bis zur Harmonik Monteverdis zurückpermutiert, „Couleurs croisés“ für Orchester, um nur die für mich eindrucksvollsten zu nennen. Die zunehmende
„Tonalisierung“ in seinen späteren Werken war wohl die logische Folge seines Bedürfnisses, ästhetisch, kompositionstechnisch, stilistisch - auch menschlich - zu „vermitteln“,
so wie er es uns einst in seinem Seminar aufgetragen hatte. Sie ließ mich dennoch, bei unvermindertem Respekt vor deren Reflektiertheit, ziemlich ratlos dort, wo sie sich seltsam
mit einer von mir vergilbt empfundenen idyllischen Expressivität vollgesogen hatte.
Als Kursteilnehmer in Darmstadt und Köln, im Hören seiner Musik und im Studium seiner Partituren, nicht zuletzt in Gesprächen mit ihm, habe ich viel bei ihm und von ihm gelernt.
Er hat wie kein anderer kreative Begeisterung und Energie zusammen mit menschlicher Güte ausgestrahlt. Wie gerne wäre ich ihm in den letzten Jahren öfters - und nicht bloß in
Konzertfoyers - begegnet und sei es nur, um ihm zu danken.
Helmut Lachenmann
Trarego, 5. April 2009
Avec l'amaible autorisation des éditions Suivini Zerboni